Management und Wissen / Desinformation
Desinformation ist mittlweile ein Dauerbrenner in der Onlinewelt – erschreckt wird festgestellt, dass und wie oft „Fake News“ auftreten und wie falsche Meldungen Stimmungen und digitale Wetterlagen (Shitstorms) beeinflussen können. Beklagt wird vor allem die Naivität des Empfängers, auf die „alternativen Fakten“ hereinzufallen und sie gegebenenfalls weiterzuverbreiten. Dabei wird die Bedeutung dieses Phänomens für die Wirtschaft und das eigene Arbeitsumfeld jedoch überwiegend noch erheblich unterschätzt.
Das Thema „Desinformation“ wird bislang meist eher im politischen Bereich diskutiert – dennoch sind zunehmend auch Unternehmen von Falschinformationen betroffen. Die massenhafte Weiterleitung von Fake-Nachrichten inklusive eines entsprechenden emotionalen Aufschreis führt bereits bei nicht Wenigen dazu, ein „digitales Mittelalter“ zu beklagen und die Errungenschaften der Aufklärung als verloren zu betrachten.
Laut einer Studie des ASW Bundesverband – Allianz für Sicherheit in der Wirtschaft e. V. (ASW) von 2017 waren fast 90 % der befragten Unternehmen davon überzeugt, dass in naher Zukunft Desinformationsangriffen eine deutlich erhöhte Aufmerksamkeit zukommen muss. Angesichts der Einschätzung von Wirtschaftsverbänden, die in der Desinformation eine der zentralen Bedrohungen des 21. Jahrhunderts für deutsche Unternehmen sehen, ist known_sense dem Phänomen in einer tiefenpsychologischen Studie nachgegangen.
Dabei stand die durchaus provokante Frage im Mittelpunkt: Wenn etwas so gut funktioniert, hat der Mensch dann gegebenenfalls auch etwas davon? Wie könnte eine insgeheim willkommene Seite der Desinformation aussehen? Und: Wie kann es sein, dass der Zugang zu Informationen noch nie so leicht war wie heute, aber dennoch so viele Fehlinformationen geteilt, „geliked“ und tausendfach geklickt werden? Spielt den Manipulatoren vor allem der bekannte, aber höchst ungünstige kognitive Mechanismus des „Bestätigungsfehlers“ (vereinfacht: wir glauben, was wir glauben wollen) in die Hände oder gibt es weitere entscheidende Faktoren?
Als ein Grund für Desinformation wird häufg ein Zuviel an Information angeführt und der Informationsüberfuss dafür haftbar gemacht, dass man nicht so recht entscheiden könne, ob eine Information richtig oder falsch sei. In der known_sense-Studie zeigt sich hingegen ein anderes Bild: Nutzer haben sich sehr versiert ein individuelles und passgenau abgestimmtes Informationsnetz zusammengestellt, das analoge und (zunehmend) digitale Kanäle verbindet. Auch wenn dieses Konstrukt ab und an auf die eigenen Bedürfnisse und hinsichtlich der Lebenslage nachjustiert werden muss: Die Fülle der möglichen Informationen wird an sich geschätzt.
Desinformation als reine Folge einer digitalen Überlastung zu sehen, greift daher zu kurz! Dennoch wurde trotz aller versierten Informiertheit geradezu erschreckend deutlich, dass sowohl das Ausmaß als auch die Mechanismen von Desinformation sowie ihre Bedeutung für die Wirtschaft und das eigene Unternehmen weitestgehend unbekannt sind. Die meisten sehen Desinformation als politisch motiviert und auf wenige Bereiche (Flüchtlinge, Wahlen) beschränkt an – für das eigene Leben wird sie als eher irrelevant betrachtet. Die Möglichkeiten und konkreten Schäden für die Wirtschaft sind unbekannt und werden zum Teil naiv heruntergespielt. Konfrontiert man Menschen damit, entsteht oft ein Gefühl von Ohnmacht oder auch Wut.
Es zeigte sich zudem als bedeutsam, was genau unter Information zu verstehen ist: Grundsätzlich wird – wie etwa im Gabler Wirtschaftslexikon – eine Information als „derjenige Anteil einer Nachricht (betrachtet), der für den Empfänger neu ist (…) und für den Empfänger einen Wert besitzt.“ Der deutsche Informationswissenschaftler Harald H. Zimmermann fügt hinzu: „Information ist der (geglückte) Transfer von Wissen“, bei dem die erhaltene Information beim Rezipienten zu einer Veränderung des bisherigen Wissens führt – da offensichtlich vorher diese Information gefehlt hat.
Information wäre also der gewünschte Empfang wesentlicher Informationen, der zu einer Veränderung im Sinne einer Erweiterung des eigenen Wissens führt. Die bisherigen Lösungsansätze gegen Desinformation und Fake News zielen insofern darauf ab, die Nutzer von Informationen dafür zu sensibilisieren, dass es Falschmeldungen gibt und wie man richtige von falschen Meldungen (wahr von falsch) unterscheiden kann, um so ein „digitales Bewusstsein“ zu schaffen. Auch YouTube zeigt sich angesichts der aktuellen Debatte aktiv und setzt einen zweistelligen Millionenbetrag aus der Google-News-Initiative ein, um eine bessere Einordnung von hochgeladenen Filmen zu ermöglichen.
Im Rahmen der Studie wurde jedoch deutlich, dass Informationen – über einen reinen Wissenstransfer und Wissenszuwachs sowie die bekannten Wahrnehmungsverzerrungen hinaus – verschiedene weitere Funktionen besitzen. So bestätigen zwar die meisten Befragten, dass sie über das Weltgeschehen informiert werden wollen. Es gibt aber nicht nur die neugierigen Informationsbürger, die dankbar Neuigkeiten aufnehmen, sondern – vielleicht auch angesichts der Schnelllebigkeit unserer Zeit – eine Sehnsucht nach Erhalt und Stabilität. Dieses Pendeln zwischen neu und alt muss stets spezifisch austariert werden und beeinflusst auch die Wahrnehmung von Informationen./p>
Im Rahmen der Tiefeninterviews für die Studie wurde eine weitere Entwicklung deutlich: Unsere sehr individualistische Gesellschaft zeigt gerade durch die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation immer stärker Züge einer kollektivistischen Kultur. So wird nicht nur die Individualität und Verbesonderung des Einzelnen positiv bewertet und angestrebt, sondern es kommt auch dem Verbleib in und der Ausrichtung auf die eigene Community zunehmend Bedeutung zu. Da die Communities zudem so weltumspannend sind, kommt auch nicht der Eindruck auf, man sitze auf seiner eigenen Scholle – wenngleich sich manche Gruppe durch eine gewisse Exklusivität abzuheben sucht.
Informationen erhalten in diesem Kontext verschiedene Funktionen: Sie dienen durchaus dazu, einen neuen Erkenntnisgewinn zu erzielen, neue Ansichten zu erhalten und Einsichten zu vertiefen. Informationen können die eigene Meinung bestärken und die eigene Individualität bestätigen – manche Sensationen ermöglichen über einen erregenden Thrill aber auch einen Ausstieg aus dem Alltag. Die Frage nach wahr oder falsch wird dabei jeweils im Rahmen der verschiedenen Funktionen bewertet.
Der Umgang mit Desinformation unterscheidet sich auch je nachdem, welche Funktion Informationen für den Einzelnen übernehmen – hier haben die Autoren im Rahmen der Studie vier unterschiedliche Typen klassifiziert (vgl. Abbildung):
In diesem Umfeld Awareness zu schaffen heißt, das Prinzip zu verstehen und eigene Mechanismen zu erkennen (vgl. Kasten). Sicherlich ist eine Recherche der Glaubwürdigkeit wichtig, um entscheiden zu können, ob man einer Nachricht vertraut und dies als „wahr“ anerkennt – den Meisten sind mögliche Wege einer solchen Überprüfung jedoch nicht bekannt. Ebenso notwendig, wenn nicht sogar bedeutsamer ist es, zu erkennen, welchen (psychologischen) Nutzen das Vertrauen in die Richtigkeit einer Meldung hat – bevor man sie weitersendet, liked oder sein Handeln danach ausrichtet.
Ein Beklagen von Überforderung und ein Zuviel an Information konnte in der Studie nicht nachgewiesen werden. Die Fülle von Informationen ist demnach nicht die einzige oder zentrale Ursache von Desinformation – Desinformation mithin keine Folge einer digitalen Überlastung.
Wirksame Maßnahmen in Unternehmen sollten sich daher nicht darauf beschränken, Mitarbeiter darin zu bestärken, die Quelle einer Information zu überprüfen, bestimmte Gestaltungsmerkmale zu beachten oder die Anzahl der Likes oder Weiterleitungen als Maßstab für die Richtigkeit einer Meldung anzusehen. Vielmehr müssen Mitarbeiter angehalten werden, das Prinzip der Falschmeldung im Kontext von Unternehmen zu verstehen und die eigenen Mechanismen im Umgang mit Informationen zu erkennen. Diese Form der Sensibilisierung geht über ein bloßes Erkennen von richtig oder falsch hinaus – sie verlangt vielmehr eine Selbstreflexion und digitale Achtsamkeit.
Die Top-10-Erkenntnisse aus der Studie lauten: